Dienstag, 29. Januar 2013

5 Jahre danach...



Die Angst vor der Entängstigung ist noch nicht vorbei

5 Jahre nach der Veröffentlichung der Erkenntnisse zur Nichtinfektiosität durch Bernhard Hirschel und die EKAF (ehemals: Eid.Kommission für Aidsfragen; jetzt: Eid. Kommission für sexuelle Gesundheit) wird klar: Die Chance der , zumindest partiellen, Entstigmatisierung wurde wenig genutzt und HIV-Positive und Menschen mit erhöhtem Ansteckungsrisiko sind nach wie vor geeignete Sündenböcke, die ungern entlastet werden.
Sie werden öffentlich angeprangert, mit umtriebigen Projekten bedient und der Nimbus von Sex and Crime wird gezielt gefördert. Aufklärung ist aber mehr als nur zur Schau stellen und erziehen wollen.
Verhaltensprävention ohne Berücksichtigung der Verhältnisse kann nicht funktionieren.
Warum sind 5Jahre nach der Veröffentlichung keine öffentliche Debatten, keine Aufklärungswellen zum Thema Nichtinfektiosität und z.B Kriminalisierung möglich. Warum setzen die Akteure auf öffentlich-wahrnehmbare Risikogruppen-Versorgung und verhindern gleichzeitig Meinungsbildung und adäquate Information der gesamten Bevölkerung ? Zum Beispiel auch zu diskriminierenden Strafgesetzanwendung?
Die Haltung, die ich dahinter vermute, ist fatal.

Unser aller Krux mit dem moralischen Werdegang und damit die Prägung von Stigma und Selbststigma wird weiterhin bewirtschaftet .
Die gesellschaftliche Atmosphäre von Ausgrenzung und Angst ist uns bestens vertraut . Vor rund 30 Jahren hatten wir alle Angst, Angst uns anzustecken, Angst krank zu werden und wie viele elendiglich zu sterben. Unsere Sexualität, wie immer wir sie auch lebten, war plötzlich befleckt, unsere Freiheit bedroht.
Notwendig war primär Aufklärung, Zugang zu Information und damit die Möglichkeit das individuelle Risiko realistisch einzuschätzen. Kommunikation auf der Bettkante, im Darkroom oder wo auch immer ,war plötzlich neu zu lernen. Natürlich war das lästig und neben mehr oder minder offensichtlichen Schuldzuweisungen und damit einhergehender Diskriminierung und Ausgrenzung war auch Neid im Spiel. Neid auf die (vermutete) Freiheiten derer, die nun die Freiheit aller einzuschränken schienen.
Das wirkt bis heute.

Trotzdem waren „wir“ uns immer einig, so dachte ich, dass Aufklärung Not tut und ,dass sie das Gegenteil von Gleichmacherei bedeutet. Trotz einfachen Botschaften, trotz Kondomisierung.
Die Aufklärungsbemühungen und -botschaften sollten uns schützen, unsere Eigenheiten , unsere Lebensgestaltung, unsere sexuellen Biografien.
..Doch während die einen sauber blieben, sind die anderen unrein - auch wenn nicht mehr verseucht.

Wann sind „wir“ vom Weg der Aufklärung abgekommen? Wann war Schweigen plötzlich eine gangbare, ja bevorzugte Option? Wann wurde „das Volk“ für zu „dumm oder bequem“ befunden , um mit Informationen und Fakten alimentiert zu werden, damit evt. eine öffentliche Debatte, sicher aber eine adäquate Meinungsbildung und eine sinnvolle Risikoeinschätzung überhaupt noch möglich wären?


S
chon bei der Veröffentlichung der Fakten zur Nichtinfektiosität im Januar 2008 fürchteten viele, dass die Informationen missverstanden werden würden. Tatsache ist aber, dass die Ängste im Vorfeld unbegründet waren. Menschen können durchaus Informationen richtig einordnen und in ihren Lebensalltag integrieren. dies zeigte u.a. auch eine extra dafür in Auftrag gegebene Studie.

Zu einem wirklichen Miteinander im privaten und öffentlichen Leben, muss Entstigmatsierung, Entdiskriminierung im Zentrum aller Fragen zu HIV und AIDS ernst genommen und berücksichtigt werden, auch in der Schweiz, und auch, oder besonders bei den Präventionsstrategien.
Und dazu ist Zugang zu Information, differenzierte Aufklärung und eine gezielte, berechtigte Entängstigung der gesamten Bevölkerung unumgänglich.

Woher kommt die Forderung nach Partner-Notifikation, nach der einseitige Informations-“pflicht“ zumindest im privaten Setting? Woher die Idee, dass Menschen mit HIV und AIDS ihre (Sexual-)Partner_Innen über ihren Serostatus informieren sollten, oder auf gut Glück spielen und hoffen nie mit einer Strafanzeige konfrontiert zu werden, wenn zugleich im Alltag, im Beruf etc. Menschen mit HIV und AIDS geraten wird sich zu tarnen. Soll Aufklärung etwa Privatsache sein, frei nach dem Motto, selber schuld, jetzt trage die Verantwortung und zwar alleine?
Auch für homosexuelle Männer trotz den weiter geschürten Vorurteilen und laut verkündeten „Durchseuchung“?
Wann haben wir uns von Kommunikation verabschiedet, von Gleichberechtigung und Gleichbehandlung?
Die Aufhebung der einseitigen gesetzlichen Verantwortung von Menschen mit HIV und AIDS, durch die Revision des Epidemiegesetzes, resp. Durch die Neuformulierung des Art231StGB wäre eine Chance für Neubelebung von Auseinandersetzung und Aufklärung, von Kommunikation auf gleicher Augenhöhe und ein Anfang der Gleichstellung.
Die Gesetzesrevision aber schweigend auszusitzen, in der Hoffnung es wird kaum wahrgenommen könnte sich als Bumerang erweisen.

Nur auf der Basis von Gleichberechtigung und Mitmenschlichkeit kann die nötige offene Kommunikation und gemeinsame Sorgfalt zum tragen kommen. Davon bin ich überzeugt. Nur dann kann Prävention und Risikominimierung nachhaltig ihre Wirkung entfalten.
Dafür ist Aufklärung unumgänglich.
Das "Volk" für zu dumm zu erklären, Fakten verstehen zu können und offen für Argumente zu sein, ist mehr als überheblich. Ein Menschenbild, das nach meinem Verständnis , jeglicher Aufklärung und der Idee von mündigen BürgerInnen in jeder Demokratie diametral entgegensteht.
Wem dient die Ungleichbehandlung samt Pranger? Die Frage ist doch, ob eine gemeinsame Verantwortung überhaupt gewollt ist.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Nichtinfektiosität zu viel mehr genutzt werden könnte als nur zum schaffen von neuen guten und bösen HIV-Positiven.
Die Privatisierung der Verantwortung und Aufklärung steht den erhofften Erfolgen für die Volksgesundheit durch Test&Treat., bzw. „treatment as prevention“ gegenüber.
Der allgemeine Trend der Angstkultur wird weiterhin genährt, mit divide ed impera und mit Scheinsicherheiten. Das wird nicht funktionieren.
Die Denver-Principles: „Don't generalize- don't blame- don't scapegoat“ haben bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren.
Packen „wir“ die Gelegenheit 5 Jahre danach wenigstens beim Schopf:
Aufklärung tut Not.
Entstigmatisierung und Entkriminalisierung, eine gesellschaftliche Entspannung und Entängstigung gegenüber Menschen mit HIV/AIDS , öffnen die Möglichkeit einer gemeinsamen Verantwortung, inklusive Kommunikation.
Und dafür braucht es weit mehr als Zielgruppen, Sündenböcke und „Zuckerbrot und Peitsche“- Strategien.



Wir müssen reden. Über die Unterschiede von Leben MIT und Leben VON HIV. Über die Interessenskonflikte, Ziele und Motive in Prävention und im Zusammenleben.

Dann könnte „uns“ das Wissen und die Freude (!) über die Nichtinfektiosität zu
Gerechtigkeit und Freiheit führen. Das wünsche ich mir: Die Frechheit selbstbestimmt und vollwertig Verantwortung zu leben!


25.Januar 2013 Michèle Meyer
Diesen Text schrieb ich auf Anfrage für den Jahresbericht 2012 der ZAH (Zürcher Aidshilfe). 5 Jahre nach der Veröffentlichung der EKAF ist es mir ein Anliegen ihn unabhängig davon zu veröffentlichen.
30.1.2008 Veröffentlichung der Fakten zur Nichtinfektiosität von Menschen mit HIV unter erfolgreicher Therapie

Samstag, 12. Januar 2013

gedanken zur diskussion rund um die epidemiengesetzrevision

die artikel- samt titel bei newsnet und 20min.- zur epidemien-gesetzesrevision sind irreführend: in der schweiz ist die entkriminaliserung der HIV-übertragung oder der HIV-exposition (risiko e. übertragung) weit entfernt.

es geht einzig um eine entschärfung des zusätzlichen strafmasses durch den art231stgb. d.h vorallem, dass art231stgb in den fällen nicht mehr automatisch zum tragen käme, bei denen, das übertragungsrisiko keines war, weil der/die HIV-positive sexualpartnerIn nichtinfektiös ist, und/oder wenn alle beteiligten in kondomlosen sex vorgängig eingewilligt haben und keine abhängigkeiten und/oder gewalt mit im spiel war. d.h. weiterhin wird es verurteilungen geben.
insbesondere bei gewalt, abhängigkeiten u.a. greifen ganz andere gesetzesartikel.

die kommentare lesen sich sehr schwerverdaulich. fazit: faktenresistentes (wobei ich betonen möchte, dass die artikel auch dazu in wenig hilfreicher form und sprache daher kommen!)verurteilen und stigma bewirtschaften, damit(?) die meisten kommentierenden sich als bessere menschen im recht fühlen und dieses "einfordern."

interessant wäre es gewesen, wenn in den artikeln nicht nur durchdringen würde, dass sich die schreibende(N) über das schweigen des BAG und der kommission für sexuelle gesundheit (vormals EKAF) wundern, sondern eben beleuchten würde(n), warum geschwiegen wird.

ich meine, dass sich bundesamt wie kommission (unter anderem?!) zu "heimlichkeiten" bzw schweigen entschieden haben, aus der angst heraus, dass fakten und aufklärung nicht gegen stigmatsierung und vorverurteilung ankommen. ich meine, dass genau dies nun durch die gewählte taktik gefördert wurde.

die taktik des schweigens und aussitzens erachte ich als falsch und höchst bedenklich. entstigmatsierung wird nicht mit schweigen erreicht. das "volk" für zu dumm zu erklären, fakten verstehen zu können und offen für aufklärung zu sein, halte ich für fatal bis überheblich. ein menschenbild, das jeglicher aufklärung und meinem verständnis von mündigen bürgerInnen in jeder demokratie diametral entgegensteht.

schon bei der veröffentlichung der fakten zur nichtinfektiosität im januar 2008 fürchteten viele, dass die informationen missverstanden würden. tatsache ist aber, dass die ängste im vorfeld unbegründet waren. menschen können durchaus informationen richtig einordnen und in ihren lebensalltag integrieren. dies zeigte u.a. auch eine extra dafür in auftrag gegebene studie.

die explizit an mich gerichtete aufforderung, während den abstimmungen im parlament, ebenso zu schweigen, habe ich bewusst übersehen. ich bin weder befehlsempfängerin noch bereit dinge unter den tisch zu kehren und so zu tun als wären meine mitmenschen schlicht zu dumm und faktenresistent.

abgesehen davon war schweigen noch nie der aktivistInnen weg. und meiner schon gar nicht. ich habe dafür nicht über mehr als ein jahrzehnt auch bewusst mein gesicht und meine stimme eingesetzt, um den vorurteilen, dem stigma und selbststigma rund um HIV/AIDS etwas entgegen zu setzen. meine ansichten zur kriminalisierung sind hinreichend bekannt. ich habe ebenfalls mehrfach öffentlich bekannt mich selbst seit jahren durch die ungerechte und absurde gesetzgebung strafbar zu machen.

meiner meinung nach, kann die entschärfung des art231stgb nur ein anfang sein. ein erster schritt die ungleichbehandlung in ihrer absurdität zu verringern und die scheinsicherheit der sogenannt nicht-betroffenen durch ebendiese aufzuheben.

zu einem wirklichen miteinander im privaten und öffentlichen leben, muss ent-stigmatsierung und die aufhebung der einseitigen (auch gesetzlichen) verantwortung von menschen mit HIV und AIDS ein ende haben.

nur auf der basis von gleichberechtigung und mitmenschlichkeit kann die nötige offene kommunikation und gemeinsame sorgfalt zum tragen kommen, damit prävention und risikominimierung respektvoll und nachhaltig ihre wirkung entfalten können.

insgesamt haben wir für den moment den "salat".
und wer weiss, ob es jetzt noch unterschriften für das referendum gegen die revision des epidemiengesetz, welches gerne vom parlament, umgangen worden wäre, hagelt?
evt. ein eigengoal. und: mehr als eine verpasste chance.

vielleicht auch kein zufall, dass die artikel, in dieser form, eine woche vor ablauf der referendumsfrist erschienen sind. mit impfgegnern punktet es sich vielleicht weniger gut beim gros der bevölkerung... ein schelm wer böses dabei denkt.

hier die angesprochenen artikel von newsnet: http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Der-Bund-will-die-Uebertragung-von-Aids-entkriminalisieren/story/27104301 und 20min. http://www.20min.ch/schweiz/news/story/Fahrlaessige-Verbreitung-von-Aids-bald-straffrei--20817266